Beim Themenkomplex «Fake News», «Filterblase», «Alternative Facts», «Polarisation» taucht oft der Begriff «Verschwörungstheorie» auf. So auch bei Gesprächen, die ich seit Publikation meines «Strahlenmeer» Artikels führe.

Es scheint mir, dass der Begriff «Verschwörungstheorie» eine Eigendynamik erfährt, bei der er nichts mehr mit seiner eigentlichen Bedeutung zu tun hat, sondern bei der er als Waffe eingesetzt wird – und zwar oft von den jeweils beiden Seiten einer Polarisationskammer.

Mehrfach wurde ich im mündlichen Gespräch gebeten, meine Sicht dieses Sachverhalts öffentlich zugänglich zu machen – und so schreibe ich diesen Artikel für Dich.

Nachlese:
6. August 2020: «Müller im Kaninchenbau» in der WoZ: der Pfad eines Profi-Snowboarders hin zu Verschwörungstheorien
18. August 2020: Axios Artikel (Englisch) über die Verschwörungstheorien-Fabrik «QAnon», die wie ein süchtig-machendes (addictive) Spiel funktioniert

Wie meist auf meinem persönlichen Blog: dieser Artikel ist vor allem persönliche Meinung von mir, und sporadisch mit besseren Quellen verlinkt. Meine Motivation ist, dass ich mir Sorgen mache um unsere Gesellschaft, wenn ich zusehe, wie schon richtige Freundschaften aufgrund der Polarisierung auseinanderdriften.

Die Polarisationskammer

Zuerst eine Erklärung, was ich mit «Polarisationskammer» meine:

Wie schon in meinem früheren Artikel zu Polarisation (hier leicht anders und auf Englisch) angetönt, wird sie durch die Kombination des Geschäftsmodells von sozialen Medien und einer Schwäche der menschlichen Psyche immer mächtiger.

Heutige populäre soziale Medien wie beispielsweise Twitter und Facebook machen ihren Umsatz auf Grundlage der Zeit, die ihre Nutzer aufmerksam auf ihre Website schauen.

Es gibt zwar unzählige Journalisten-Artikel, die das «Geheimnis des Facebook Algorithmus lüften» und dergleichen. Aber die Logik ist sehr einfach und in der beiliegenden Skizze zusammengefasst:

  • Zeit am Bildschirm ist das, was den Ertrag durch Werbung maximiert
  • Aufmerksamkeit ist das beste, um die Zeit am Bildschirm zu maximieren
  • Engagement (Reagieren auf Posts, «Liken», Kommentieren, Antworten) hält Aufmerksamkeit am meisten aufrecht
  • Emotionen (allen voran Empörung und andere negative Emotionen) aktivieren menschliches Engagement am nachhaltigsten
  • Polarisation ist da!

So viel zum Wortteil «Polarisation».

Mit «Kammer» meine ich den heutigen Sachverhalt, dass sich solche Polarisationsprozesse in diversen Themen aufgetan haben. Beispiele, die mir spontan einfallen:

  • Corona/COVID19 Massnahmen: sie sind zu einschneidend versus sie reichen nicht
  • Impfdebatte: impfen muss sein versus impfen ist gefährlich
  • Klimakatastrophe: wir müssen sofort handeln, um den Untergang abzuwenden versus das sind alles Lügen, Erfindungen und Manipulationen, um […] (beliebige Unterstellungen)
  • 5G: unabdingbar für den technologischen Fortschritt versus gefährlich für Mensch und Tier
  • Trump in den USA: «für mich» versus «für den Untergang der USA»

Mit «Polarisationskammer» meine ich nun ein solches Thema. Also ein Thema, in dem Polarisationsprozesse aktiv sind, oder eben eine thematische «Kammer», in der sich die Polarisation abwickelt.

Polarisationskammern zu kreieren ist ein wichtiges Mittel für Akteure, die Gesellschaften schädigen wollen. Dies wurde historisch prominent und effektvoll eingesetzt bei dem Doppelereignis der Wahl Trumps und der Brexit Abstimmung 2016.

Die Verschwörung

Bevor ich in den Kern dieses Artikels eintauche, möchte ich kurz auf die eigentliche Bedeutung des Begriffs «Verschwörung» eingehen.

Eine Verschwörung ist eine geheime Zusammenarbeit mehrerer Personen zum Nachteil Dritter.

Wikipedia zu „Verschwörung“ (mit meiner Betonung)

Wichtig an der Verschwörung ist, dass es eine absichtliche und geheime Aktion ist, die anderen schaden soll. Es muss also einer Gruppierung von Menschen unterstellt werden, dass sie absichtlich etwas Böses gegen andere unternehmen.

Ich wünsche mir, dass jede und jeder zuerst gründlich überlegt, ob die drei Bedingungen erfüllt sind, resp. wie plausibel das ist, bevor sie oder er eine Verschwörungstheorie weiter verbreitet.

Ich entdecke übrigens gerade, dass Wikipedia eine Liste von Verschwörungstheorien unterhält – das hilft zur Illustration.

Meine zentrale Kritik von Verschwörungstheorien im heutigen Alltag ist, dass ich glaube, dass die meisten durch Verschwörungstheorien „erklärten“ Sachverhalte sehr einfach durch systemische, psychologische, wirtschaftliche oder einfach rationale Logik erklärt werden können. Es braucht gar keine Verschwörung.

Die Waffe

«Verschwörungstheorie» ist eine ideale Waffe, um eben solche Polarisationskammern zu schaffen. Hier versuche ich, darzustellen, wie dieses auf beiden Seiten eingesetzt werden kann.

Aufgrund aktueller Diskussionen in meinem Freundeskreis benütze ich gleich das Thema „5G Mobilfunk“ als Beispiel.

Verschwörungen bedrohen uns!

Auf der einen Seite kann ich archaische Ängste von Menschen mobilisieren, indem ich über eine Verschwörung mutmasse oder eine solche behaupte.

Dies war – wie die oben verlinkte Liste von solchen Theorien eindrücklich beweist – schon seit Jahrhunderten so. Neu ist aber die hohe Durchdringung unserer Gesellschaft durch die sozialen Medien, deren kommerzieller Erfolg und die daraus resultierende Dominanz genau jener Dynamiken, welche exakt die Ausbreitung von Verschwörungstheorien befeuern.

Im einfachsten Fall zieht eine gut erfundene Verschwörungstheorie genau das Register der Empörung. Beispiel: «Es kann doch nicht angehen, dass ausgerechnet diese wichtigen und mächtigen Managerinnen, Politikerinnen oder wer auch immer uns vom gemeinen Volk so hintergehen, ausnehmen oder gar für dumm halten!»

Und wie schon oben erwähnt, ist Empörung die viralste Emotion. D.h. unter all den Posts, die meine Facebook-„Freunde“ teilen, werden durch die Fokussierung der Auswahlalgorithmen jene, welche direkt oder indirekt Verschwörungstheorien thematisieren, bevorzugt angezeigt.

Im Beispiel „5G“ wird von der Anti-5G-Seite teilweise unterstellt, dass es eine Verschwörung zwischen den Behörden und der Mobilfunkindustrie gäbe. Telekom-Unternehmen würden gesetzliche Vorgaben nicht einhalten, und die Behörden würden das dulden. Strahlung ist ja nicht sichtbar, und es ist eh so viel Geld im Spiel, dass es da sicher genügend Motivation für diese zwei sich verschwörenden Parteien (Behörden und Telekom-Unternehmen) gibt.

Zumindest im schweizerischen Kontext kann ich mir das mit dem besten Willen nicht plausibel vorstellen. Für eine Swisscom ist einerseits das Risiko von Reputationsschaden viel zu hoch.

Andererseits kann auch eine makellose Einhaltung von Grenzwerten und Vorschriften PR-mässig perfekt als Ablenkung von anderen Aspekten von Funkstrahlung eingesetzt werden.

Eine Verschwörung ist in diesem Beispiel gar nicht nötig, weil alleine die wirtschaftlichen Interessen ausreichen, um grosse Budgets in Lobbying und in die Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zu investieren.

Dumme Verschwörungstheoretiker!

Auf der anderen Seite kann ich – allenfalls genau dank denjenigen (vielleicht auch sehr wenigen) auf der Gegenseite, die Verschwörungstheorien verbreiten – die Gegenseite gesamthaft als „Verschwörungstheoretiker“ diskreditieren.

Dies ist ein praktische Möglichkeit, von anderen, für die Sache meist viel relevanteren Themen abzulenken – wieder dank der Empörung. Über die Methode des sogenannten «Whataboutism» kann dann auf beliebige Argumente der Gegenseite mit der Diskreditierung «Verschwörungstheoretiker» reagiert werden – und schon muss nicht mehr auf die inhaltlichen und fachlichen Argumente der Gegenseite eingehen.

Beim Beispiel «5G» kann also einfach auf diese lächerlichen Verschwörungstheoretiker verwiesen werden, die doch tatsächlich glauben, dass wir ehrenvollen und Gesetzes-treuen Telekom-Unternehmen illegale Praktiken anwenden. Und schon sind alle Fragezeichen wegen allfälligen Gesundheits-Beeinträchtigungen, Skepsis gegenüber der Argumente von so viel unbedingt notwendiger Bandbreite für den ubiquitären Video-Konsum oder ferngesteuerte selbstfahrende Autos entweder ganz ausgeblendet, oder nur noch mit Mitleid ob so viel Naivität dieser Verschwörungstheoretiker spöttisch belächelt.

Entwaffnung?

Wie schaffen wir es, dieseWaffe aus dem Verkehr zu ziehen?
Oder müssen wir diese als Fact of life hinnehmen?

Wie ich schon in meinem früheren Artikel zu Polarisation (hier leicht anders und auf Englisch) dargelegt habe, habe ich bezüglich Polarisations-Dynamiken wenig Hoffnung.

Wie ich es inzwischen schon im engsten Bekanntenkreis erlebt habe, verursacht Polarisation zähe, lang anhaltende Schäden. Ist jemand einmal auf eine Seite polarisiert. Fakten und Appelle an Vernunft, und Ermahnungen an die Wichtigkeit, insbesondere in Überlebenswichtigen Themen gemeinsam voranzugehen, kommen oft gar nicht mehr beim Gegenüber an.

Geht es dann noch um eine Verschwörung, ist die Situation noch um eine Stufe vertrackter:

  • jedes Argument, das gegen eine Verschwörungstheorie angeführt wird, kann meist durch die Konstruktion der Verschwörungstheorie selbst genau als Bestätigung dargestellt werden: denn jene, die dieses Argument vorbringt, muss dann wohl Teil der Verschwörung sein.
  • jedes Argument, das der Gegenseite der Verschwörungstheoretiker vorgetragen wird, wird immer im Kontext der Überheblichkeit, aber meist nicht ernsthaft entgegengenommen.

Vielleicht können wir mit der gebündelten Kraft von Vertretenden beider Seiten einer Polarisationskammer Situationen schaffen, wo für die breite interessierte (und eben polarisierte) Öffentlichkeit eine Debatte oder Auseinandersetzung mit sehr langem Atem, Geduld und Toleranz geführt wird.

Das Format des Zeit Podcasts «alles gesagt?» bringt mich auf die Idee, dass das vielleicht ein Vorbild sein könnte: Eine öffentliche Debatte, die einfach so lange läuft, bis beide Seiten sich einigen können.

Hast Du eine Idee? Oder kennst Du Situationen, wo solche Verschwörungstheorie-Polarisationskammern aufgelöst wurden? Gib mir Bescheid!

Handlungsoptionen für Dich und mich

Bevor Du einer Verschwörungstheorie glaubst oder gar weitererzählst, prüfe sie bitte:

  • Was bewegt mich, dieser Theorie zu glauben? Welche Angst, welche Gier, welche Empörung?
  • Wie könnten die Resultate der Verschwörung durch systemische, wissenschaftliche, wirtschaftliche, psychologische oder soziale Ursachen begründet werden?
  • Wer könnte ein Interesse haben, dass ich an diese Theorie glaube? Wer würde profitieren, wenn alle diese Theorie glauben würden?
  • Was würde es mir bringen, wenn alle diese Theorie glauben würden?

Ich glaube, dass Du nach gründlicher Beantwortung dieser Fragen eine gute Grundlage hast, um ganz selbst zu entscheiden, wie Du weiter mit dieser Theorie umgehen willst.


Diverse Quellen

Hier gibt es eine schöne Podcast Sendung von Kara Swisher und «Recode Decode» mit dem Titel: Phil Howard and Emily Bell: Disinformation in 2020, from «Plandemic» to Bill Gates to «Obamagate».

Hier gibt es ein interessantes Paper und hier eine Doktorarbeit zum Thema der «Homophilie», des Trends, nur noch zu konsumieren, lesen, mitbekommen, was man schon glaubt – was das Thema des obigen Blog-Artikels natürlich befeuert.

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4 Kommentare

  1. Das hat zwar nicht direkt mit deinen Gedanken zu tun, aber trotzdem: Ich habe eine Zeit lang Freunde nach ihrer Lieblingsverschwoerungstheorie gefragt. Die beste Antwort war: Jesus Christ. Diese Antwort weitet den Horizont der Diskussion auf interessante Weise aus. Was kommen da fuer Resultate von Deinen vier Tests…

    1. Ein unterstuetzendes Beispiel zu deinem Argument aus unserer britischen Brexitdiskussion: Anstatt ‹Verschwoerungstheoretiker› wurden hier jegliche pro-remain Argumente als ‹Project Fear› abgestempelt und ignoriert. Das ist eine sehr maechtige Waffe gegen Wahrheit (und ohne transparenter Wahlfinanzierung, eine Waffe gegen eine faire Demokratie).

      1. Ja, genau – das geht natürlich ins übergeordnete Thema der Polarisation. Das sind ganz toxische Tendenzen – Ausweg wie gesagt mir sehr unklar.

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