Dies ist ein Artikel, der meiner Arbeit am Institut für Modellbildung und Simulation der Hochschule für angewandte Wissenschaften in St. Gallen entspringt.

Filterblasen und «Fake News» oder alternative Fakten sind in aller Munde.

Die Mischung dieser Effekte und deren Konsequenzen können heute fast täglich in den Medien verfolgt werden. Sie führt wie von selbst in eine Polarisierung in Politik und Gesellschaft, welche möglicherweise in Konflikte beliebigen Ausmasses münden kann.

Je nach Interessenslage der Urheberschaft kann die Entwicklung unterschiedlich dargestellt oder manipuliert werden.

Im Bestreben, eine weitere Betrachtungsweise einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, werden wir im Folgenden die Situation mithilfe der Methoden des Systemdenkens und der Systemdynamik zerlegen. So haben wir eine neue Chance, mögliche Gegenmassnahmen zu entdecken.

See English article about the same subject here. It also contains the actual Vensim file of the CLD for you to expand or correct it!

Ein komplexes System von mehreren, gleichzeitig wirkenden Zusammenhängen ist naturgemäß schwierig zu beschreiben – und es lohnt sich fast immer. Es erlaubt es, verschiedene Ursachen, Wirkungen und Entwicklungen gleichzeitig und nebeneinander darzustellen und zu würdigen. Oft erlaubt es danach, mehrheitsfähigere Lösungsvorschläge zu erarbeiten.

Beginnen wir also am besten in diesem Sinne willkürlich bei einem Thema. Nennen wir es «Lügen»: Unwahrheiten erzählen, die der eigenen Sache dienen resp. die eigenen Meinungen oder Absichten bestätigen resp. unterstützen. Wir sind also hier mitten in Kellyanne Conways «alternativen Fakten».

Wenn wir die «Lügen» kombinieren mit dem Konzept der Filterblasen, dann gibt es leicht ein positiv eingestelltes Publikum, die Anhänger. Wenn diese ausreichend konsequent innerhalb ihrer Filterblase bleiben, werden sie die Lügen unabsichtlich oder absichtlich nicht als solche erkennen. Wenn die Lügen effektvoll eingesetzt werden, stärken sie die Unterstützung durch die Anhänger. Diese wachsende Unterstützung wird wahrscheinlich durch mehr Lügen belohnt.

Daraus resultiert eine sogenannte «positive Rückkopplung». Die Lügen und die Unterstützung wiegeln sich gegenseitig auf. Gäbe es keine anderen Zusammenhänge, so würde dieses System sich endlos verstärken.

Die Diagramme in diesem Artikel sind Kausaldiagramme. Pfeile bedeuten jeweils «beeinflusst kausal». Es wird dabei zwischen «positivem» (+) und «negativem» (-) kausalem Zusammenhang gesprochen. «Positiv» und «negativ» sind in diesem Kontext nicht bewertend, im Sinne von «gut» oder «schlecht», gemeint, sondern zeigen an, ob der Effekt gleichgerichtet oder entgegengerichtet ist. Im ersten Diagramm nimmt die Unterstützung durch die Anhänger zu, wenn die Lügen zunehmen.

Würde nun derart gelogen, dann würde das in einer Gesellschaft unweigerlich auch Empörung hervorrufen. Diese würde aber nicht bei den eigenen Anhängern aufkommen – denn für diese werden die Lügen schliesslich gezielt fabriziert. Die Empörung kommt vielmehr bei der Gegenseite oder der Opposition auf. Da es sich aber um die Opposition handelt, ist dies womöglich genau eines der Ziele der Urheber der Lügen. So wird also diese Empörung bei der Gegenseite wiederum Grund sein für noch mehr Lügen. Und schon gibt es eine zweite «positive Rückkopplung». Wir haben also zwei kausale Zusammenhänge oder Dynamiken, welche sich in dieselbe Richtung stetig verstärken – sozusagen eine katastrophale Konstellation.

An diesem Punkt gleicht die Dynamik der klassischen Situation des Wettrüstens. Dabei stehen sich zwei Feinde gegenüber, welche reihum aus Angst vor der Überwältigung durch den anderen weiter Aufrüsten. Auch dort gibt es innerhalb dieses Bildes keine Ausstiegsmöglichkeit.

Um die Macht der Filterblase zu verdeutlichen, können die Medien einbezogen werden. Bei gegebener Medienfreiheit wird es unweigerlich sowohl für die Empörten, als auch für die Anhänger, entsprechende Medien geben. Mehr Unterstützung durch die Anhänger wird die Anhänger-Medien erfolgreicher machen. Erfolgreichere Medien führen zu effektiverer und noch euphorischerer Berichterstattung für dieses Publikum, was noch mehr Unterstützung durch die Anhänger zur Folge haben wird. Dasselbe wirkt auf der Seite der Opposition. Dies ist nichts anderes als der verstärkende Effekt der Filterblasen. Es sind wieder zwei positive Rückkopplungen. Nicht zuletzt wird der wachsende Erfolg sämtlicher Medien weitere Motivation sein, noch mehr Lügen einzusetzen – und schon gibt es noch mehr verstärkende Rückkopplungen.

Um die gefährlichen Konsequenzen dieser Dynamik einfach sichtbar zu machen, können wir eine Grösse «Konfliktpotential» einsetzen. Sowohl bei der Zunahme der Empörung, als auch bei der Zunahme der Unterstützung, wird das Konfliktpotential zunehmen. Dieses wird also im Gleichschritt mit der Gesamtentwicklung stetig und womöglich exponentiell (sprich immer rascher) zunehmen – mit unvorhersehbaren Konsequenzen.

Ab diesem Punkt konzentrieren wir uns auf eine Suche nach einem Ausweg aus der Lügen-fördernden Entwicklung. Zweifellos wird die Gegenseite versuchen, die Lügen zu entlarven. Steigt also die Empörung, so wird es mehr solche Versuche geben. Diese können aber durchaus wiederum im Sinne der Lügenquelle sein: Die Entlarvungsversuche werden für die Anhänger offensichtliche Beweise für die Unzulänglichkeiten der Gegenseite sein. Und damit haben wir keine moderierende, sondern eine weitere befeuernde Dynamik.

Nach alter Denkweise wäre ein weiterer möglicher Ausweg das Gewicht von «Daten und Fakten», d.h. von Resultaten in der realen Welt, welche durch Wissenschaft und Reportage zugänglich gemacht resp. dokumentiert werden. Tatsächlich würden diese zu mehr Erfolg beim Entlarven führen, welche vielleicht die Unterstützung durch die eine Anhängerin oder den anderen Anhänger schmälern würde. Ebenfalls würde dies den Erfolg der Anhänger-Medien reduzieren, resp. denjenigen der Opposition verstärken. Und schon haben wir in der Tat erste sogenannte «negative Rückkopplung» im Spiel. Dies sind nun die ersten Effekte, welche dem Hochschaukeln zwischen Anhängerschaft und Opposition entgegenwirken.

Was jedoch heute beobachtet werden kann, ist eine effektive Methode, um diese Dynamik zu schwächen oder gar in ihr Gegenteil zu kehren: Wissenschaft und Medien diskreditieren. Wenn nun als Teil der «Lügen» auch die Wissenschaftler und Reporter diskreditiert und deren Berichte somit ausgehöhlt werden, dann kehrt sich der Effekt um: der Erfolg der Entlarvung wird vermindert, und die Unterstützung durch die Anhänger und der Erfolg ihrer Medien wird wieder zunehmen.

Halten wir an diesem Punkt inne, so sehen wir eine vertrackte Situation. Wir haben ein aktives Element mittendrin und Anhänger und Opposition. Alle drei Positionen werden durch die bisher eingebrachten Dynamiken radikalisiert, und es scheint bis hierher keinen Ausweg zu geben. Das Konfliktpotential wächst stetig, es ist nur Schlimmstes zu befürchten.

Es wird auch offensichtlich, dass jegliche Aktionen innerhalb dieses Konstrukts oder dieses Systems die Dynamik nur weiter befeuern. Im Falle des aktuellen US-Präsidenten, Fox News und CNN läuft jegliche Aufklärungs- oder Hetzkampagne von jedem Akteur ins Leere, resp. sie stärkt die jeweiligen Positionen der anderen Akteure.

Eine nachhaltige Veränderung ist also höchstens von ausserhalb dieser Parteien möglich.

Der Wert dieses Modells, dieses sogenannten Kausaldiagramms (Causal Loop Diagram oder CLD), ist es, die Vertracktheit der Situation erkenntlich zu machen.

Ein möglicher Ausweg ist die Verbreitung der Erkenntnis, dass die Situation eben so vertrackt ist. Möglicherweise lassen sich so genügend bisher Unbeteiligte motivieren, sich einzumischen. Und zwar nicht, indem sie dem einen oder dem anderen Lager beitreten, sondern indem sie die Erkenntnis in alle Ecken des Systems tragen und versuchen, dort moderierend einzugreifen. Dies kann über eine Erforschung der wahren, dem jeweiligen Beitrag zur Dynamik zugrundeliegenden Motivationen der Akteure gelingen. Werden diese bekannt, können sie adressiert werden, um die Eskalation zu dämpfen und allenfalls sogar ganz zu bremsen.

Nehmen wir also diese Ausführungen zum Anlass, uns an die Moderation zu machen. Es ist wichtig, selber zu erkennen, inwiefern man schon Teil der Empörung oder der Unterstützung ist. Ob man also schon in der einen oder der anderen Filterblase ist. Erst dann ist es möglich, herauszusteigen und auf eine wirkliche Entspannung hinzuwerken.

Eine englische Version des hier vorgestellten Diagramms finden Sie hier als Vensim Datei, die Sie selber weiterverwenden, ausbauen, oder korrigieren können.

Die genutzten Methoden des Systemdenkens und der Systemdynamik lassen sich auf jegliche komplexe Situationen anwenden. Geeignet sind immer jene am meisten, bei denen unterschiedliche Domänen und Aspekte in wechselseitigen Abhängigkeiten gleichzeitig wirken und agieren.

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