Provokativer Vorgeschmack für diesen Artikel:

  • Vergiss Hort und Kita!
  • Kinder brauchen keine Kinder!
  • Kinder können niemals mit Nähe zu den Eltern verwöhnt werden!
  • Kinder brauchen bis zur Volljährigkeit ihre Eltern!
  • Kinder-Suizid, Mobbing und Teenager-Revolte sind hausgemacht und vermeidbar!
  • Bequemlichkeit und Freiheitsdrang von Eltern im frühen Kindesalter ihrer Kinder rächen sich mit Verlust ihrer Verbindung zu denselben!

In diesem Artikel geht es um Bindung, Kinder und meine persönliche Betroffenheit mit dem Thema.

Kleine Entdeckung am 2. Mai 2019: «The Hookup Culture», TED Vortrag aus 2014. Leicht neben dem Thema dieses Artikels, aber in direktem Zusammenhang damit.

Ich habe erlebt, wie ich meine Verbindung zu meinem Kind verlor.

  • Wenn es unter Gleichaltrigen war, war es nicht mehr ansprechbar.
  • Habe ich es von diesen trennen wollen, hat es haltlos getobt.
  • Es hat gar nichts mehr erzählt aus seinem Leben weg von mir.
  • Es sah mir fast nicht mehr in die Augen.
  • Es widersetzte sich in Momenten, in denen Kooperation wichtig gewesen wäre.

Dann habe ich etwas über Bindung und Gleichaltrigenorientierung gelernt, und welche Gegenmassnahmen es gibt.

Wenige Wochen später war die Situation wie umgekehrt.

  • Mein Kind wurde unabhängig von Gleichaltrigen.
  • Lief ein Gleichaltriges Kind vorbei, wurde freundlich gewinkt und gegrüsst, und mein Kind blieb ohne Widerstand an meiner Hand.
  • Mein Kind fing an, aus dem Kindergarten zu erzählen.
  • Mein Kind fragte mich von selbst, ob es etwas bestimmtes machen dürfe.
  • Es wollte fast nur noch kooperieren.

Ich treffe so viele Situationen an, in denen ich glaube, dass das Wissen über diese Zusammenhänge jemandem oder einer Familie nützen könnte, dass ich diesen Beitrag mal zusammenschreibe.

Dieser Artikel «Aufschrei eines Kindheitsforschers» in der Huffington Post hat mich ermutigt, diesen Plan endlich umzusetzen.

Wie immer schreibe ich frei von der Leber und in meinen eigenen Worten, und gebe für Detailfragen die Quellen an.

Die Theorie

Die Evolution hat bei Säugetieren ein überlebenswichtiges Grundprogramm entwickelt. Es ist deswegen so wichtig, weil Säugetiere bei der Geburt und erstaunlich lange Zeit danach nicht wirklich gesund überlebensfähig sind. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen erst etwa mit der Volljährigkeit selbständig sind.

Dem Programm liegt ein Konzept zugrunde. Es handelt sich dabei um eine ”gerichtete Bindung” zwischen einem schutzbedürftigen Part A und einem schutzgebenden Part B, welche die folgenden Bedingungen erfüllen:

  • B ist alleine für die Qualität der Bindung verantwortlich
  • B ist sich dieser Verantwortung bewusst
  • B ist zu dieser Verantwortung fähig
  • A wählt B selber aus, d.h. B muss A für die Bindung gewinnen
  • B revanchiert sich mit totaler Kooperation. Es lässt sich in die Abhängigkeit von A fallen.
  • B tut alles, um A zu beschützen resp. bestmöglich gedeihen zu lassen.

Das Programm für die schutzbedürftige Partie A sieht in den Grundzügen etwa so aus:

  1. Ich muss jemanden haben, der sich um mich kümmert.
  2. Wenn ich dies habe, bin ich ruhig, kann ich mich entspannen, kann ich mich entwickeln, kann ich lernen, kann ich die Welt erkunden.
  3. Wenn ich dies nicht habe, muss ich so schnell wie möglich diese Bindung finden.

Das Programm für die schutzgebende Partie B sieht in den Grundzügen etwa so aus:

  1. Dieses Geschöpf liebe ich über alles
  2. Dieses Geschöpf braucht mich zum überleben
  3. Ich werde alles tun, um dieses Geschöpf zu beschützen. Sein Wohlergehen und Überleben hat für mich im Notfall die höchste Priorität

Soweit die Grundlage.

Die beabsichtigten Konsequenzen

Im klassischen, ursprünglichen natürlichen Zustand passt dieses Programm perfekt. Wird das Tier (z.B. der Mensch) geboren, sind die Mutter, der Vater und/oder viele andere Erwachsene oder Bindungs-fähige Verwandte da. Die Programmierungen funktionieren, greifen ineinander ein, sind flexibel für erschwerende Umstände (stirbt beispielsweise die Mutter, springt ein anderes Familienmitglied ein).

Das schutzbedürftige Geschöpf kann sich entspannt entwickeln, altersgerecht schrittweise verselbständigen. Die schutzgebende Partei kann sich auf die Kooperation verlassen und ihr Leben bestmöglich weiterführen.

Die schutzgebende Partei beschützt die andere auch im weiteren Sinne. Durch die Schutz- und Kooperations-Dynamik ist beispielsweise sichergestellt, dass Aussenstehende (Fremde Menschen, aber inzwischen auch kommerzielle Angebote, Produkte, Werbung) zuerst die Hürde «Beschützer» überwinden müssen, um an das Kind zu kommen. Eine Firma muss also zuerst die Eltern überzeugen, dass das Kind ein Produkt braucht, bevor sie es verkaufen kann.

Ich spreche in diesem Fall von vertikaler Bindung. Das Kind verbindet sich mit einem erfahrenen Vorbild.

Die gesellschaftlichen Veränderungen

Beim Säugetier Mensch kam es plötzlich anders.

Durch die Arbeitsteilung, Industrialisierung, Mobilität und sogenannte Emanzipation der letzten paar hundert Jahre ist in kleinen Schritten eine Situation entstanden, in der mehrere Programmschritte ins Leere greifen oder der ursprünglichen Absicht entgegenwirken.

Zuerst verabschiedete sich der Vater immer mehr aus dem familiären Alltag. Er arbeitete nicht mehr zuhause, landete vielleicht sogar in der Fabrik, mit stetig mehr Arbeitsstunden. Kinder waren im besten Fall noch mit der Mutter und nächsten Verwandten.

Dann kam die Landflucht, oder die Mobilität, um der Arbeit nachzugehen. Grossfamilien wurden auseinandergerissen, es kam die Klein- oder Kernfamilie. Das Kind blieb nur noch bei der Mutter.

Schliesslich kam noch die “Emanzipation der Frau“: es gebe keinen Grund, dass die Mutter nicht voll arbeiten dürfe oder solle – also soll die „Kinderbetreuung“ gefördert werden, damit die Mutter sich so rasch wie möglich (beruflich) „selbst verwirklichen“ kann. Das Kind ist nun allein.

Obendrauf kommt inzwischen der gesellschaftlich hartnäckige Glaube, Kinder bräuchten viel Sozialleben mit gleichaltrigen «Freunden». Dies sei so früh wie möglich erstrebenswert und gar wichtig für die Entwicklung. Sie werden also noch mehr zu Gleichaltrigen hin gestossen, als sie dies durch oben genannte Umstände eh schon werden.

Das Kind ist nun vom ursprünglichen Programm vollständig abgeschnitten. Alle ursprünglich vorgesehenen Bindungspersonen sind weg.

In der “professionellen Kinderbetreuung“ mag noch so viel Professionalität und gute Intention stecken. Jedoch sticht die finanzielle Realität und die Statistik alles aus:

  • Das teuerste sind die Mitarbeitenden – und das wären im besten Fall die notwendigen „verantwortungsbewussten Erwachsenen“. Konsequenterweise wird es a) wenige und b) eventuell nur beschränkt „verantwortungsbewusste“ Bezugspersonen geben.
  • Es gibt ein massives Ungleichgewicht im Zahlenverhältnis zwischen Betreuungspersonen („Partie B“ im obenstehenden Bild) und schutzbedürftigen Kindern («Partie A»). Das Kind wird weit mehr „verantwortungsunfähige“ (nämlich Kinder, «Gspänli») als „verantwortungsfähige“ Gegenüber um sich haben.

Die Konsequenzen in der heutigen Gesellschaft

Ohne den ursprünglich vorgesehenen Bezugsrahmen entsteht die folgende Dynamik:

  • Das Programm des schutzbedürftigen Kindes dreht erstmal im Leeren und produziert erhöhten, anhaltenden Stress (mitsamt Cortisol-Pegel und allen entsprechenden Konsequenzen für Immunsystem und dergleichen), weil kein garantiertes Gegenüber da ist.
  • Mangels Alternativen werden in der Not und fälschlicherweise Gleichaltrige als Bezugspersonen gewählt («Gleichaltrigen-Orientierung» resp. «peer orientation»).

Letzteres hat seinerseits wiederum ganz bedenkliche Folgen:

  • Gleichaltrige sind nicht verantwortungsbewusst. Sie werden im Umgang mit dem Kind nie berücksichtigen oder sich bewusst sein, dass sie für dessen Leben und Überleben Verantwortung tragen.
  • Gleichaltrige sind nicht verantwortungsfähig. Sogar wenn sie sich hypothetisch der Verantwortung bewusst wären, wären sie nicht fähig, die Schutzbedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Weder können sie es physisch und psychisch beschützen, noch können sie konsequent und kontinuierlich beschützen. Sie sind zu klein und unbeholfen, und sie sind beliebig ablenkbar.
  • Dem Gleichaltrigen ist das Kind vollkommen egal. Hat das Kind daneben ein schöneres Spielzeug, ist das ursprüngliche Kind sofort vergessen und irrelevant.
  • Letzteres kreiert für das Kind beliebig oft traumatische Erlebnisse. Erinnern wir uns an den ursprünglichen Zweck des Programms, so ist klar, dass ein wiederholtes Abreissen der zentralen gerichteten Bindung tief erschütternd ist. Vor allem und offensichtlich für das kleine Kind in Krippe und Kindergarten, aber genauso in der Schule und bis und mit in die Teenagerjahre. Es wird angenommen, dass das ganze Mobbing Thema und wachsende Kindersuizid-Zahlen mit diesem Effekt zusammenhängen.
  • Folglich wird das Kind äusserst unfrei. Um diese traumatischen Erlebnisse zu reduzieren, wird es zwanghaft alles tun, um dem Gleichaltrigen zu gefallen und nicht in Ungnade zu fallen. Es wird automatisch anfällig für Mobbing, Bestechung jeglicher Art, bis hin zu seelischer, sexueller oder finanzieller Ausnützung.
  • Das Kind wird ganz anders und viel einfacher von Dritten beeinflussbar. Ein Modelabel, eine Marke, eine Werbeaktion, ein kommerzielles Angebot, muss nur noch Gleichaltrige (z.B. Justin Bieber) überzeugen, eine Werbebotschaft positiv rüberzubringen – und schon wird sie vom Gleichaltrigen-orientierten Kind aufgesogen.

Ich nenne dies jeweils verkürzt die horizontale Bindung, da das Kind sich sozusagen „horizontal“ mit seinen Kameraden verbindet.

Der Lichtblick

Glücklicherweise gibt es nicht nur die Hiobsbotschaft dieser Entwicklung und misslichen Lage für unsere Gesellschaft. Es gibt auch sehr einfach anwendbare Gegenmassnahmen.

Besteht einmal ein Bewusstsein, ein Verständnis und ein Glaube an das oben beschriebene Programm, liegen viele mögliche Massnahmen auf der Hand.

Mögliche Massnahmen zwischen A, dem schutzbedürftien, und B, dem beschützenden Mensch, die je nach Alter des Kindes unterschiedlich ausgestaltet werden können (und unterschiedlich lange brauchen werden):

  • B muss die Bindung von A gewinnen. B muss investieren, um A zu überzeugen, die Bindung zu B einzugehen. Dies geschieht nicht per Dekret und kann unmöglich erzwungen werden. Denn das Programm bedingt die Freiwilligkeit bei A. „Du musst kooperieren, weil ich Dein Vater bin“ funktioniert nicht. Schöne Erlebnisse zu bescheren, funktioniert jedoch. Es wird auch vom „das Kind zu sich holen“ gesprochen.
  • Den Schutz-Aspekt kultivieren. Psychischer und physischer Schutz kann in beliebig subtiler Form demonstriert werden. Das Kind mehr bei der Hand nehmen. Die Wohnungstür öffnen resp. das Telefon abnehmen, wenn geklingelt wird, statt das Kind hinzuschicken. Beim Händchen-Halten die Hand gut und robust halten. Bei Konflikten der Teenagerin mit Dritten angemessen einschreiten und dem Kind den Rücken stärken.
  • Eine subtile Variante der Kultivierung des Schutz-Aspektes ist es, keine Gelegenheiten zu verschenken, in denen das Kind seine Bewunderung für den schutzgebenden Menschen stärken kann. Alles, was das Kind von mir lernen kann oder will, soll es von mir lernen dürfen. Basteln, Tiere beobachten, Zeichnen, was auch immer. Das Kind für solche Aktivitäten wegzuschicken in irgendwelche Kurse oder zu vermeintlichen «Expertinnen» oder «Experten», ist eine Vergeudung von wichtiger Gelegenheit, die Bindung zu stärken.
  • Aktiv Einfluss nehmen auf das soziale Umfeld des Kindes. Dies ist weder unwichtig noch übergriffig, sondern zentrale Aufgabe für B. Vor allem lohnt sich ein Augenmerk darauf, wie die Bindungskonzepte der Kameraden des Kindes sind.
  • Provokativ kann gesagt werden: «Kinder brauchen keine Kinder«. Natürlich ist das nicht unbedingt vertretbar. Aber doch hilft dieses Statement, dem Irrglauben in der heutigen Gesellschaft entgegenzuwirken.
  • Im Umgang mit meinen Kindern hat mir oft der Satz geholfen: «Bindung vor Weisung«. Er bedeutet, dass es meist deutlich bessere Kooperation gibt, wenn vor einer Weisung («das darfst Du nicht machen») die Bindung zum Kind aufgebaut wird (z.B. zum Kind hingehen, seine aktuelle Tätigkeit wohlwollend kommentieren, in einen Dialog treten), um erst dann um etwas zu bitten oder eine Forderung zu stellen.

Spezielle persönliche Situation

Auf meinem eigenen Erkenntnisweg gab es folgende konkrete Spezialitäten.

  • Freiheit und Unabhängigkeit über alles: Mir sind dies selber – als Erwachsener – wichtige Werte. Irrtümlicherweise hatte ich angenommen, dass ich diese am besten meinen Kindern weitergebe, indem ich sie von früh an immer dorthin, in die Freiheit und Unabhängigkeit… schubse! Nach dem Weckruf des hier beschriebenen Themas der Bindung habe ich gelernt, dass dies das Gegenteil bewirkt. Nur ein gut vertikal gebundenes Kind, das sein eigenes Abnabelungstempo 100% selbst steuern darf, wird sich in echte Freiheit und Unabhängigkeit begeben.
  • Abscheu für Anbiederung: Ich hatte in mir eine Abneigung dagegen, extra etwas nettes zu tun mit oder für mein Kind, «nur um dessen Sympathie zu gewinnen». Ich glaubte, das sei manipulativ, «billig», anbiedernd, anrüchig, korrumpierend. Ich hatte aus demselben Grund nie oder selten meinem Kind etwas geschenkt oder einfach so etwas ohne Not zuliebe getan. Es fällt mir inzwischen schwer, dies zuzugeben. So komplett falsch und fast unmenschlich kommt es mir heute vor. Heute ist dies ein sehr wichtiges Mittel zum aktiven Kultivieren der Bindung zu meinen geliebten Kindern.
  • Leben in einer Gemeinschaft: Ich war beim Vaterwerden überzeugt, dass das Wohnen in einer Lebensgemeinschaft die beste, eigentlich einzig richtige Form sei, Kinder aufwachsen zu lassen. Ich habe realisiert, dass dies in dieser Allgemeinheit nicht stimmt. Es hat sich für mich sogar herausgestellt, dass zumindest die von uns erlebte Lebensgemeinschaft und unser Umgang im Austausch mit ihr das pure Gegenteil war: eine arge Verschärfung des Problems der «Gleichaltrigenorientierung».

Die Quellen

Mein Weckruf in dieses Thema wurde eingeleitet durch ein Seminar bei Kirsten Timmer und Teresa Heidegger von TransParents. Sie haben übrigens einige sehr schöne kurze Videos produziert, die obiges auf andere Weise beschreiben.

Der eigentliche Weckruf selbst stand dann für mich in den Büchern über und von Gordon Neufeld: Bindung und Entwicklungspsychologie (inkl. Peer Orientation oder Gleichaltrigenorientierung) mit sehr praktischen, sofort umsetzbaren Vorgehensvorschlägen oder Massnahmen:

Der Vortrag für Profis (Englisch)
Vortrag auf Deutsch

Karl Heinz Brisch ist ein Experte zum Thema Bindung. Alle weiteren Informationen sind auf seiner Website zu finden.

John Bowlby ist Pionier der Bindungsforschung.

Ein herzlicher Dank geht an Denise fürs Lesen, Rückfragen und ergänzen!

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