Dank der Überzeugungskraft von Systemdynamik kann ein Vorschulkind den geschmacklichen Ekel vor Antibiotika überwinden. Dies ist ein gutes Zeugnis für eine Methode, die eingesetzt werden kann, um im geschäftlichen Kontext andere zu überzeugen oder Team-übergreifend gemeinsame mentale Modelle zu entwickeln.

Am Institut für Modellbildung und Simulation der Fachhochschule St. Gallen zeigen wir Leuten auf der Strasse (resp. in unseren Vorlesungen) auf, wie sie durch Modellierung und Simulation die grossen Fragen ihres Lebens (resp. Ihrer Firma) neuartig, umsichtig und mehrheitsfähig beantworten können.

Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, die Überzeugungskraft und Anschlussfähigkeit der Methode an meinem Vorschulkind zu testen.

Wääh! So gruusig

Das Kind war krank und musste sich trotz all meinem überzeugten Widerstand einer Antibiotika-Kur unterziehen.

Mittel wurde gekauft, erste Dosis verabreicht.

Dann wurde festgestellt, dass das Mittel äusserst ungeniessbar war. Es sollte aber noch über eine Woche lang zweimal pro Tag eingenommen werden. Das war ein schwieriger Ausblick.

Ich versuchte, mit klassischen Methoden zu überzeugen. «Das musst Du nehmen!», «Die Frau Doktor hats gesagt!», «Sonst wirst Du wieder krank!».

Nach einem Tag waren sämtliche Symptome weg. Und doch sollte das Mittel noch so lange weiter genommen werden. Die Luft wurde dünn, um das Kind zu überzeugen.

Da kam mir die zündende Idee: Systemdynamik!

Das Original

Es wird von Wissenschaftlern behauptet, dass gerade kleine Kinder einen viel direkteren Zugang zu systemdynamischen Konzepten hätten als Erwachsene. Es gibt auf dem Internet viele Berichte über das erstaunliche Talent von Kindern und Kleinkindern bei der Anwendung von Systemdenken (meist auf Englisch, hier ein Beispiel mit weiterführenden Links, und hier ein Video).

Ich war skeptisch, aber es war meine letzte Hoffnung, um mein Kind für den Antibiotika-Einsatz zu gewinnen.

Krieg der Kreaturen: Rückkopplungen

Ich malte zuerst (symbolisch!) ein grosses Bakterium – oder eben einen «Käfer». Dieser ist böse, und dieser macht krank.

«Was passiert, wenn es mehr von diesen gibt?» «Sie machen mehr Junge!»

«Was passiert, wenn es mehr Junge gibt?» «Es gibt noch mehr Käfer!»

Genau so. Schon ist die erste sogenannt «positive Rückkopplung» aufgezeichnet. Und ein «Sense of Urgency» ist etabliert, ein Weckruf: da muss auf jeden Fall etwas unternommen werden, um dieser Katastrophe entgegenzuwirken.

Glücklicherweise gibt es «Polizischtli»: eine vereinfachte Zusammenfassung der körpereigenen Widerstandstruppe (weisse Blutkörperchen, Antikörper, Immunsystem). Diese werden bei Bedarf vermehrt produziert. Wenn es also mehr Käfer gibt, gibt es mehr junge Polizischtli.

«Was geschieht, wenn es mehr junge Polizischtli gibt?» «Mehr Polizischtli!»

«Was geschieht, wenn es mehr Polizischtli gibt?» «Weniger Käfer!»

Und damit ist der zweite Kreis geschlossen, und wir haben eine sogenannt «negative Rückkopplung»: Je mehr Käfer, desto mehr Polizischtli, desto weniger Käfer. Wenn also dieser Mechanismus funktioniert, werden die Käfer in Schach gehalten.

Der Lauf der Natur

Damit ist der grundlegende Balance-Akt zwischen unserem Immunsystem und dessen Angreifern modelliert.

Was bis hierher nur in einem Kausaldiagramm dargestellt wurde, kann nun in ein simulationsfähiges Bestands- und Flussmodell überführt werden.

Dazu Können wir die Bestände von «Käfern» und «Polizisten» malen, mit jeweiligen Geburts- und Sterberaten:

In dieser Vereinfachung modellieren wir, dass sich Käfer einfach mit dem «Käfer Wachstumsfaktor» vermehren (dies die positive Rückkopplung aus dem Kausaldiagramm oben), und dass die Polizisten vom Immunsystem mit einem «Polizisten Sterbefaktor» abgebaut werden.

Dann können wir die Interaktion einbauen (die negative Rückkopplung von vorhin):

  • Die Polizisten werden durch das Immunsystem produziert, sobald Käfer erkannt werden. Hierfür bauen wir einen Faktor «Neue Polizisten pro Käfer» ein.
  • Die Käfer werden von den Polizisten dezimiert. Hierfür kommt ein Faktor «Tote Käfer pro Polizist» dazu.

Damit kann der Balance-Akt nun beliebig durchgespielt werden. Die vier genannten Faktoren sind nun die Hebel in diesem Modell.

Unsere Gesundheit können wir schliesslich am einfachsten sichtbar machen, indem wir die Bestände von Käfern und Polizisten über die Zeit verfolgen. Dafür bauen wir eine Grafik ein, wo wir diese beiden Grössen im Verlauf der Zeit darstellen. Strebt der Bestand der Käfer nach «rechts oben», bedeutet dies vereinfacht den Tod:

Fällt der Bestand der Käfer hingegen zurück auf den unteren Rand der Grafik, hat das Immunsystem seinen Job richtig gemacht und der Schädling ist erlegt:

Die Faktoren haben eine direkte Verbindung zur realen Welt, wie wir sie alle kennen:

  • Der «Käfer Wachstumsfaktor» ist ein Mass für die Aggressivität des Krankheitserregers. Setzen wir ihn auf null, geht es uns gut. Erhöhen wir ihn genug, werden wir jedes auch noch so starke Immunsystem erlegen.
  • Die «Neuen Polizisten pro Käfer» sind ein Mass für die Reaktionsgeschwindigkeit des Immunsystems auf diesen Erreger. Ist der Wert zu tief, so wird zu langsam reagiert, und der Körper wird von dem Eindringling überwältigt. Ist er hoch genug, wird alles gleich im Keim erstickt.
  • Die «Toten Käfer pro Polizist» sind ein Mass für die Effektivität der Polizisten. Hohe Werte erlegen den Käfer schneller, niedrige werden vielleicht nicht ausreichen, um sie zu besiegen.
  • Der «Polizisten Sterbefaktor» ist schliesslich einfach ein Mass für die Aufräumaktivität im Immunsystem. Sie hat nur einen untergeordneten Einfluss.

Das sozusagen lebendige Modell dieses Balance-Akts kann hier heruntergeladen werden. Die kostenlose Software für das Betrachten und Weiterbauen findest Du bei Vensim (die «PLE» Version reicht). Zum Rumspielen muss das Modell mit Vensim geöffnet werden, und dann der «SyntheSim» Knopf gedrückt werden. Danach können alle Parameter mit Schiebereglern verändert werden, während sich die Grafik gleichzeitig entsprechend anpasst.

Fortgeschrittene können mit dem Modell und der Software auch Massnahmenverläufe modellieren. Was geschieht, wenn ich nach einer bestimmten Dauer erstarke, weil ich meine Ernährung umstelle oder wärmer habe? Was geschieht, wenn die Effektivität meines Immunsystems abnimmt?

Zu dem Modell lässt sich auch erwähnen, dass wir hier einen typischen Fall eines «Kipppunktes» (Tipping Point) haben. Sind die Faktoren so eingestellt, dass die Käfer erledigt werden, können wir einen einzelnen von ihnen so lange verändern, bis das System plötzlich von Überleben auf Sterben umkippt. Da es sich hier mathematisch gesehen um ein ausserordentlich einfaches System handelt, kann dieser Kipppunkt sogar analytisch hergeleitet werden.

Von der Überlebenseinstellung kann über

  • … eine Erhöhung des «Käfer Wachstumsfaktor» (Aggressivität des Erregers)
  • … eine Reduktion der «Neuen Polizisten pro Käfer» (Reaktionsgeschwindigkeit des Immunsystems)
  • … eine Reduktion der «Toten Käfer pro Polizist» (Effektivität des Immunsystems)
  • …oder eine starke Erhöhung des «Polizisten Sterbefaktor» (Aufräumaktivität im Immunsystem)

… das System gekippt werden, sprich das Immunsystem zum Zusammenbruch geführt werden.

Mir gefällt und hilft das Bild, dass diese Balance in unserem Körper täglich und Millionen-fach etabliert wird. Bei jedem Atemzug, jedem Handschlag, jeder Bewegung in unserer Umwelt werden wir von unzähligen Käfern traktiert – und unser Immunsystem läuft ununterbrochen auf Hochtouren. Und in der grossen Mehrheit der Fälle siegt unser Immunsystem.

Gott spielen

Bis hier konnten wir ein Modell entwickeln, das uns die bekannten Dynamiken und Kipppunkte veranschaulicht und erlebbar macht.

Sind wir nun in einem Zustand, wo die Käfer sich erfolgreich gegen das Immunsystem durchsetzen, gibt es nun seit Anfang des letzten Jahrhunderts Antibiotika, um das System zu unseren Gunsten zu beeinflussen.

Werfen wir zuerst einen Blick zurück auf unser Kausaldiagramm – und mein Kind:

«Was tun wir nun mit diesem grusige Züg?» «Wir töten Käfer!»

So ist es. Wir spielen Gott und verabreichen unserem Körper etwas, was direkt die Käfer-Population dezimiert.

Im simulationsfähigen Modell können wir ebenfalls einfach ein «Tröpfchen» mit «Wirkung» einfügen, das das «Käfersterben» beeinflusst:

Um das Resultat schliesslich auch als schlagkräftiges Argument für die tägliche Einnahme des ungeniessbaren Medikaments zu nutzen, wählen wir eine ausführliche Variante für die konkrete Verabreichung des Mittels. Wir wollen Startzeitpunkt der Kur (ab Beginn der Krankheit), Dauer der Wirkung einer Verabreichung, Zeit zwischen den Verabreichungen und eine Anzahl Wiederholungen einstellen können:

Ab jetzt können wir die Zeitentwicklung der Käferpopulation betrachten.

Starten wir also bei einem von Natur aus hoffnungslosen Fall. Der Käfer siegt, seine Population wächst ins unermessliche, der Körper ist dem sicheren Tod geweiht:

Verabreichen wir nun eine Dosis des Antibiotikums, gibt es eine erkennbare Unterbrechung des Wachstums der Käfer-Population. Subjektiv für die Patientin scheint zuerst die Krankheit weg. Aber leider ist der Effekt rasch weg, und der Tod wird nur verzögert:

Nun können wir die Anzahl der Verabreichungen erhöhen. Es beginnt der Kampf zwischen der Natur und der Chemie:

Und plötzlich bringen wir – dieses Mal mithilfe des menschlichen Fortschritts der Medizin – den Kipppunkt herbei, und die Käfer werden gebodigt:

Das wichtige an diesen Grafiken ist, dass das Medikament weiterhin genommen werden muss, obwohl vermeintlich die Krankheit vorbei ist.

Ende der Reklamationen!

Als meine Tochter dieses Bild sah, war das Quengeln vorbei. Sie kommentierte zwar nach wie vor den Geschmack des Mittels – aber die Notwendigkeit wurde kein einziges Mal mehr bezweifelt.

Ich bin auch jetzt noch überrascht, wie die Methoden des Systemdenkens und der Systemdynamik

  • absolut anschlussfähig sind (sogar ein Vorschulkind kommt mit)
  • immer noch mehr aufdecken, als im Voraus angenommen wird (ich habe selbst durch das Erstellen, und sogar nun durch das Aufbereiten für diesen Artikel sehr viele neue Aspekte entdeckt – ich wollte doch nur meine Tochter überreden, die Kur durchzuziehen)

Was für ein Vorschulkind funktioniert, kann in jedem Kontext effektvoll eingesetzt werden, in dem Menschen überzeugt, zusammengebracht, geschult oder orientiert werden müssen.

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