Es wird aktuell viel über «neue Varianten» und «Mutationen» von COVID-19 gesprochen und geschrieben. Dabei wird oft davon gesprochen, dass diese ansteckender oder gefährlicher seien.

Anfänglich dachte ich immer, gefährlicher sei schlimmer als ansteckender. Intuitiv dachte ich, wenn ich infiziert würde, würde es ja schliesslich drauf ankommen, wie gefährlich es ist.

In diesem Artikel leite ich aber her, dass es ganz im Gegenteil für die Gesellschaft unangenehmer wird, wenn der Virus ansteckender wird.

Am Institut für Modellbildung und Simulation der Fachhochschule St. Gallen unterrichten wir seit Jahren «Systemdenken und Systemdynamik». Da haben wir auch seit jeher das sogenannte Epidemie Modell (oder «SIR Modell») präsentiert und diskutiert. In diesem Artikel werden wir eine stark vereinfachte Form davon einsetzen.

Infektionen

Am Anfang der Geschichte eines effektiven Virus stehen die Infektionen. Ist er erfolgreich, schafft er es, dass Infizierte schneller und häufiger andere infizieren, als sie heilen. Das heisst also: je mehr Infizierte es gibt, desto mehr Infektionen gibt es. Da jede Infektion zu einer neuen infizierten Person führen, entsteht ein sogenanntes «exponentielles Wachstum».

Würde beispielsweise jede Infizierte Person pro Tag zwei weitere infizieren, gäbe es von einer einzigen Infektion ausgehend folgende Entwicklung der Infektionen: 2, 6 (3 Personen infizieren je 2 Personen), 18 (9 Personen infizieren je 2 weitere), 54, 162 usw.

Grafisch kann dies einfach in einem sogenannten kausalen Diagramm (Causal Loop Diagram CLD) dargestellt werden: Mehr Infektionen führen zu mehr Infizierten, und mehr Infizierte führen zu mehr Infektionen.

Als Simulation könnte man einen Bestand «Infizierte» definieren, der über «Infektionen» gefüllt wird, welche über eine «Infektiosität» zur aktuellen Anzahl an Infizierten proportional ist.

Dies führt zum klassischen «exponentiellen Wachstum», wie in diesem Graphen ersichtlich. Solches Wachstum hat viele Tücken, und es ist nachweislich ausserordentlich schwierig für uns Menschen, solches richtig einzuschätzen (siehe «Exponential Growth Bias» auf Wikipedia). Grundsätzlich wächst eine solche Grösse mit der Zeit unglaublich viel schneller als am Anfang.

Tote

Im Gegensatz zum exponentiellen Wachstum des eigenlichen Infektionsgeschehens ist das Sterben deutlich gemächlicher, denn es ist «linear». D.h. eine Krankheit führt in einer Bevölkerung ungefähr gleichmässig zum Tod. Es kann also sein, dass eine Infektion beispielsweise bei 3% der Fälle zum Tod führt – unabhängig davon, wie viele schon gestorben sind.

Dies kann also ganz einfach als proportionale Kennzahl im obigen Simulationsmodell hinzugefügt werden. Das Virus hat eine bestimmte Tödlichkeit, und die Toten sind das Produkt aus der Anzahl Infizierten und dieser Tödlichkeit.

Verschlimmerung

Um nun zu studieren, welche Eigenschaft des Virus kritischer ist, können wir sowohl die Infektiosität, als auch die Tödlichkeit variieren. Dies tun wir mit zwei entsprechenden Faktoren, und wir bekommen das folgende Simulationsmodell:

Wir können damit nun beide Parameter auf 0 runterfahren (ausschalten, -100%), oder beliebig stark verstärken.

Vergleich

Nun folgt eine Diskussion, was denn überhaupt «schlimm» sein soll. Für diesen Artikel gehe ich vereinfachend davon aus, dass wir als Gesellschaft die Anzahl an Toten so klein wie möglich halten wollen. In der COVID-19 Realität gibt es natürlich den eigentlich wichtigen Zwischenschritt der «Hospitalisierung». Diesen verkürze ich aber deswegen, weil er die eigentliche Entwicklung der Situation nicht verändert.

In der folgenden Tabelle trage ich nun auf, wie viele Tote wir nach 100 Tagen haben, und ich variiere die beiden Parameter jeweils um 10%:

Verschlimmerung Tödlichkeit0+10%0
Verschlimmerung Infektiosität00 +10%
Tote6557211779
Resultierende Verschlimmerung+10%+172%

Es ist offensichtlich, was viel schlimmer ist für die Gesellschaft: bei gleichbleibender Tödlichkeit sterben ab der gleichen Krankheit nach derselben Zeit fast 3 Mal so viele Menschen, wenn die Infektiosität um 10% zunimmt. Nimmt die Tödlichkeit um 10% zu, nehmen auch die Toten nur um 10% zu.

Ansteckender ist gefährlicher!

Dies ist also der Grund, weshalb beim Auftauchen einer neuen COVID-19 Variante Alarm geschlagen wird, auch wenn die neue Variante «nur» ansteckender ist. Auch wenn ich genau gleich entspannt oder ängstlich sein kann für den Fall, dass ich selbst angesteckt würde, ist eben eine höhere Infektiosität gesellschaftlich viel gefährlicher.

Du kannst selbst mit dem Modell experimentieren. Dazu benötigst Du nur die «Personal Learning Edition» (PLE) von Vensim, und die Modell Datei:

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1 Kommentar

  1. Die Frage, ob «ansteckender» gefährlicher ist als «tödlicher», ist berechtigt und interessant. In der Tat kann es auf den ersten Blick scheinen, als wäre ein tödlicherer Virus gefährlicher. Allerdings kommt es in Bezug auf die gesellschaftliche Auswirkung weniger darauf an, wie tödlich ein Virus ist, sondern wie ansteckend.

    Ein höherer Ansteckungsgrad führt dazu, dass sich ein Virus schneller und weiter verbreitet und somit insgesamt mehr Menschen infiziert. Selbst wenn der Prozentsatz der Todesfälle dabei relativ gering bleibt, kann die absolute Zahl der Todesfälle aufgrund der insgesamt höheren Anzahl an Infizierten dennoch stark ansteigen.

    Auf der anderen Seite kann ein tödlicherer Virus zwar für diejenigen, die sich infizieren, gefährlicher sein – wenn sich jedoch weniger Menschen infizieren, bleibt die absolute Zahl der Todesfälle möglicherweise kleiner.

    Zusammengefasst lässt sich also sagen: Ein ansteckenderer Virus kann auf gesellschaftlicher Ebene tatsächlich gefährlicher sein als ein tödlicherer Virus. Es ist daher wichtig, sowohl die Todesrate als auch die Infektionsrate im Auge zu behalten, um die gesamte Gefahr eines Virus zu verstehen.

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